Gespräch mit Peter Kremski


Welche Art von Filmen machen Sie?

Die Elemente meiner Filme sind das Dokumentarische und das Erzählte, also Fakt und Fiktion. Die Filme haben einen dokumentarischen Bodensatz, auf dem das Erfundene aufbaut. Das ist ein Verweben von Dokumentar- und Spielfilm, bewegt sich offen und grenzgängerisch zwischen den Genres.

 

Meistens sind Ihre Darsteller keine professionellen Schauspieler.

Orte und Menschen gehören in meinen Filmen zusammen, sind nicht zu trennen. Ich drehe mit den Menschen, die an dem Ort leben, von dem der Film erzählt.

 

Wie finden Sie Ihre Darsteller?

Ich recherchiere viele Wochen, schaue mich um, lerne Leute kennen, versuche eine Nähe herzustellen und mir ein Bild zu machen. Anfangs habe ich nur eine vage Vorstellung und entwickle dann aus meinen Erlebnissen und Erkundungen eine Geschichte, die zu einem Drehbuch führt. Ich nutze die Möglichkeit, Menschen für den Film zu gewinnen, sie zu handelnden Personen der Geschichte zu machen. Das Recherchieren ist für mich also ganz wichtig. Manchmal ist es auch nur frustrierend mit Phasen, wo sich gar nichts ergibt; dann ist es einfach nur so ein Herumlaufen.

 

Wenn die Rollen so nah sein sollen an den Darstellern, die sie spielen, können Sie die Rollen doch grundsätzlich immer erst entwickeln, wenn Sie die Darsteller gefunden haben?

Ich muss das aus den Charakteren entwickeln, mein Temperament, meine Ideen und meine Fantasie mit den Persönlichkeiten der Mitwirkenden synchronisieren. Weil sie keine Schauspieler sind, müssen sie bei sich sein, um so etwas machen zu können. Man kann sie nicht zu etwas hinbiegen, was sie nicht sind und infolge auch nicht darstellen können. Weil sie keine Profis sind, ist es für sie auch keine Arbeit; sie machen das nach dem Lustprinzip. Entscheidend ist, dass ich in ihnen den Spaß am Spiel wecke, sonst funktioniert es nicht.

 

Entwickeln die Darsteller ihre Rollen mit?

Nein; ich habe zum Beispiel erst am Ende meiner Recherche auf São Tomé für den Film 'Früchtchen' den Mitwirkenden die Geschichte erzählt, die sich aus der Recherche ergeben hat. Ich war neugierig, was meine Geschichte für sie bedeutet. Ihre Reaktion hat mich bestärkt, sie so zu erzählen.

 

Wie hat sich die Geschichte zu 'Früchtchen' entwickelt?

Ich stand in São Tomé wochenlang auf dem Schlauch und fühlte mich vollkommen fremd. Ich war auch auf der Suche nach alten Menschen; also habe ich jemanden gefragt, ob es in der Stadt ein Altersheim gibt. Es gab eines, und dorthin hat man mich gebracht; in eine Hölle, bewohnt von Engeln, wo ich eine alte Frau kennen lernte. Aus der Begegnung mit ihr entstand die Geschichte der Ma, die im Sterben liegt und sich nach ihrem Sohn sehnt. Sie weiß, der Sohn ist weit weg und ruft ihn. Ihr Ruf materialisiert sich in einer Riesenbrotfrucht. Das kommt aus diesem afrikanischen Altersheim; zwei seiner Bewohner sind übrigens im Film zu sehen: der Blinde und diese alte Frau, die die Ma ist.

 

Was ist der Ausgangspunkt in 'Jaguar und Regen'?

Ich hatte auf der Recherche zu einem früheren Film den Rio Negro bereist. Da fährt man Tage und Tage durch eine Landschaft aus Wasser und Wald, die heute unverändert so aussieht wie vor abertausenden Jahren, ein Blick in die Tiefe der Zeit, in der zum Beispiel Wallace und Spruce da hochgefahren sind und eben auch KochGrünberg. Der hat dasselbe gesehen wie ich, bezogen auf die Landschaft. Wenn Koch-Grünberg da ein Jahrhundert vorher unterwegs war, was hat er erlebt, wem ist er begegnet, was ist mit ihm passiert? Und ich auf meiner Reise heute, was erlebe ich, wem begegne ich? Das wollte ich hin und her spielen: Koch-Grünberg vor hundert Jahren und ich heute. Wobei es mich dann im Film nicht gibt, sondern die Passagiere der 'Ana Paula' auf dem Rio Negro, immer flussaufwärts. Hier ist der Ausgangspunkt.

 

Wie arbeiten Sie mit den Darstellern?

Wie gesagt: in ihnen Lust und Spaß wecken und sie bei Laune halten, das ist mein Handwerk. Davon hängt es ab, ob es was wird oder nicht. Ich gehe aber nicht nach São Tomé und arbeite dort mit Afrikanern, als wären das meine Kumpel von nebenan. Das sind Fremde, und ich kann diese Fremde nicht vereinnahmen. Die haben ihre Welt, ich hab die meine: dazwischen ist das Fremde. Es kann nur eine Annäherung geben, die Verstehen möglich macht. Was die Vorbereitungen betrifft so waren zwei Drittel der Darsteller in 'Früchtchen' Analphabeten. Ich konnte ihnen also nicht das Drehbuch in die Hand drücken und sagen: 'Lies mal, das wird jetzt gemacht!' Also habe ich mich fünf Wochen vor Drehbeginn jeden Tag mit ihnen zusammengesetzt und ihnen das Drehbuch vorgelesen; Szene für Szene, und wir haben besprochen, was sich da tut. Sie sollten eine genaue Vorstellung von der Geschichte bekommen.

 

Gibt es auch Darsteller, mit denen Sie mehrmals gearbeitet haben?

Mit einigen habe ich wiederholt gearbeitet, aber auch andere sind mir ans Herz gewachsen; die Garimpeiros zum Beispiel, die Goldschürfer in 'Goldland'. Das waren wilde, großherzige Kerle und Überlebenskämpfer. Ich mochte die gern und sie mich auch, sonst hätte das nicht funktioniert. Eine Woche vor Drehbeginn wurde einer ihrer Bosse erschossen. Der saß vorm Fernseher und jemand hat ihm durchs Fenster drei Kugeln in den Kopf gejagt. Eigentlich hätte er im Film den Chef spielen sollen.

 

Amazonien ist mehrfach Schauplatz Ihrer Filme. Die Begegnung mit dem Rio Negro war seinerzeit für Sie ein Schlüsselerlebnis. Zum ersten Mal haben Sie dort 1983/84 gedreht: 'Das Schlangenfischkanu'. Später folgten 'Jaguar und Regen', 'Goldland' und jetzt 'Bad Boy'.

Für 'Bad Boy' hab ich zum ersten Mal am Amazonas gedreht. Dort liegt der Ort, wo der Film beginnt. In der Geschichte heißt er Anta, was auf Deutsch Tapir bedeutet.

 

Sie haben am Rio Negro gedreht und jetzt am Amazonas. Sind das verschiedene Welten?

Oh ja, diese Flüsse sind Persönlichkeiten; einzigartig und unverwechselbar prägen sie die Landschaft, die Atmosphäre, schaffen ihre eigene Welt.

 

Es geht Ihnen in dem Film auch um den Kontrast zwischen Amazonien und São Paulo, zwischen der hinterwäldlerischen Provinz und der Megacity?

Der Kontrast liegt auf der Hand. Das Nebeneinander von Wald und Beton, Urzeit und Genmanipulation, Mythen und Informatik ist typisch für Brasilien, existiert gleichzeitig und bruchlos.

 

'Bad Boy' ist Teil eines Zyklus, zu dem auch die Filme 'Jaguar und Regen', 'Goldland' und 'Früchtchen' zählen. In welcher Relation steht er zu den anderen Filmen des Zyklus?

Es gibt ein geographisches Verbindungselement: die äquatoriale Region. In ihrer Charakteristik sind die Filme Dokumentation, Dokufiktion oder fast fiktiv, das Dokumentarische nur ein Spurenelement. In 'Bad Boy' ist das Narrative, Fiktive ausgeprägter als zuvor in 'Früchtchen'. Auch das Verhältnis der Figuren zueinander ist komplexer, sie durchlaufen eine Entwicklung, die sie verändert. Das darzustellen war natürlich eine große Anforderung an die Mitwirkenden.

 

Was sind das für Leute?

Sie kommen aus dem Ort, in dem der Film spielt, Einheimische also aus dem Innersten Amazoniens.

 

Wie haben Sie die gefunden? Haben Sie da ein Casting gemacht? Mussten sie vorsprechen?

Die kann man doch nicht vorsprechen lassen! Das war eine bisweilen mühselige Suche, bei der man in Bewegung bleiben und überall seine Nase reinstecken muss.

 

Und dann sehen Sie irgendwo zufällig den Mann, der dann im Film der Sheriff ist.

Ich bin zum Beispiel in die Schule gegangen und hab in die Klassen gelinst. So fand ich den Hilfssheriff. Den Sheriff hab ich auf einer Geburtstagsparty entdeckt. Und der Junge, der den Häftling Jô spielt, tauchte eines Tages in dem Haus auf, in dem ich übernachtete. Er hatte einen sitzen, schwadronierte rum und stänkerte, um mich herauszufordern. So sind wir ins Gespräch gekommen. Schließlich habe ich die, die ich ausgesucht hatte, zusammengeholt und mir drei Szenen ausgedacht, die sie improvisieren sollten, um zu sehen, wie sie aufeinander reagieren und was von ihnen rüberkommt.

 

Was für eine Position in der Schule hatte der Hilfssheriff?

Position? Der saß da in seiner Klasse und sah aus wie der Finsterling in Person, an Wochenenden ist er als Herz-Schmerz-Sänger in der Dorfdisco aufgetreten. Der Sheriff, der früher sein Lehrer war, handelte mit Zigaretten, Crackers, Softdrinks, Ein- und Verkauf en gros.

 

Was war die Motivation für die Darsteller, bei dem Film mitzumachen?

Zeitvertreib; in diesen Urwaldnestern am Ende der Welt herrscht große Langeweile. Und um was zu verdienen. Aber es hat ihnen auch einfach Spaß gemacht, wir haben in einem Freundschaftsverhältnis miteinander gearbeitet.

 

Wie haben Sie mit den Darstellern gearbeitet?

Erstmal ging es ums Lesen, das war ein Problem. Dort liest keiner, die schauen nur Fernsehen. Sie mussten lernen, das Drehbuch zu lesen und den Inhalt der Szenen zu erfassen. Manoel, der den Sheriff spielt, hatte da keine großen Probleme, er war ja mal Lehrer. Aber die beiden Jungen: Fehlanzeige. Die haben anfangs die Geschichte einfach nicht begriffen. Mir lag aber viel daran, dass sie wissen, was da erzählt wird und worum es geht, was sich zwischen den Figuren auch gefühlsmäßig ereignet, und dass sie die Geschichte schließlich mit ihren eigenen Worten erzählen können. Das musste über Wochen erarbeitet werden.

 

Wenn sie Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, müssen sie doch auch Schwierigkeiten haben mit dem Lernen.

Das ging dann schneller. Es gibt nur wenige Dialoge, und die sind kurz und bündig. Probleme hatte der Hilfssheriff, der auch ein Kindskopf ist, unkonzentriert, vor allem bei seinen Rap-Texten. Wenn er sich da immer wieder verhaspelte, brannten ihm die Sicherungen durch.

 

Sie mussten die Takes also häufig wiederholen.

Unterschiedlich. Manchmal ging es ruckzuck mit einem Take, ein andermal war es zäh; mehr als zehn Wiederholungen einer Einstel lung gab es nicht. Aber auch das haben sie durchgehalten und sich einfach bemüht, es zu verbessern; mit Ehrgeiz, es schließlich auf den Punkt zu bringen.